Heute gehen wir an den Anfang der uns überlieferten europäischen Musik – um die 1200 Jahre zurück! Vermutlich haben Menschen zwar schon immer in irgendeiner Weise musiziert, wie die Funde von frühen Musikinstrumenten belegen. Aber erst seit dem frühen Mittelalter ist uns Musik in Form von Texten und Noten überliefert. Es handelt sich um geistliche Musik aus der alltäglichen liturgischen Praxis an Klöstern, wo die stündlichen Gebete vertont wurden.
Dabei müssen wir wissen, dass die sakralen Gesänge damals einstimmig waren – mehrstimmige Musik, die es im weltlichen Bereich schon gab, war anfangs nicht zugelassen. Das heißt, dass der gesamte Ausdruck in die Melodie, das rhythmische Auf und Ab der Töne, gelegt wurde. Wir müssen ganz zur Ruhe kommen und uns öffnen, um diesen Ausdruck nachempfinden zu können – allzu schnell werden die frühmittelalterlichen Choräle als langweilig weggewischt.
Am heutigen Pfingstfest hören wir auf der Klassikliste das Pfingstgebet Veni creator spiritus, das sich direkt an den Heiligen Geist wendet. Der Gebetstext stammt vermutlich von dem berühmten Abt Hrabanus Maurus (780–856) aus dem Kloster Fulda, die Vertonung geht auf Guillaume Dufay zurück. In der Aufnahme singen – unter dem Künstlernamen The Cistercian Monks of Stift Heiligenkreuz – die Mönche der Choralschola des niederösterreichischen Klosters Stift Heiligenkreuz. Uralte Musik aus einem vergangenen Zeitalter!
Auch Beethoven kontrastiert in seiner großen Mess-Vertonung das Dona nobis pacem im Agnus Dei mit Kriegsmusik: Nach langen Melismen im 6/8-Takt und mehreren beschwörenden Ausrufen auf pacem kommt die Musik auf einmal zum Stillstand. Die Pauke gibt im 4/4-Takt einen Marsch vor, die Trompeten setzen mit militärischen Signalen ein, während das Solistenquartett hochdramatisch um Erbarmen bittet – und schließlich der 6/8-Takt zurückkehrt und die Friedensbitte minutenlang wiederholt wird. Für Beethoven war der Kontakt mit dem Kanonendonner des Kriegs schier unerträglich. Seine Freunde beschrieben, dass er, als Napoléon 1809 Wien belagerte, „die meiste Zeit in einem Keller bei seinem Bruder Caspar“ verbrachte, „wo er den Kopf mit Kissen bedeckte, um ja nicht die Kanonen zu hören“.
Hören wir heute auf der Klassikliste das gesamte Agnus Dei aus der Missa solemnis D-Dur op. 123 von Ludwig van Beethoven (1770–1827) in einer Aufnahme aus dem Jahr 2018, an der Reinhards Patenonkel mitgewirkt hat. Unter der Leitung von Frieder Bernius musizieren der Kammerchor und die Hofkapelle Stuttgart.
Die Missa solemnis D-Dur op. 123 ist eine feierliche Vertonung der lateinischen Messe von enormen Ausmaßen. Sie war ursprünglich als Musik für die Inthronisation seines hochadligen Schülers, Förderers und Freundes Erzherzog Rudolph von Österreich (1788–1831) in das Amt des Erzbischofs von Olmütz gedacht. Aber Beethoven komponierte mehrere Jahre an dem Werk und konnte es ihm erst mit drei Jahren Verspätung überreichen. Das Werk wird heute abwechselnd als Konzertmesse, Oratorium oder Chorsymphonie eingestuft und kann als geistliches Gegenstück zur weltlichen 9. Symphonie gesehen werden. Beethoven selbst betrachtete die Missa solemnis als sein größtes Werk. Sie wurde heute vor 200 Jahren im philharmonischen Saal in St. Petersburg uraufgeführt – auf Betreiben des Fürsten Nikolai Golizyn, der vier Jahre in Wien gelebt hatte und ein großer Verehrer Beethovens war.
Hören wir an seinem heutigen Geburtstag Joseph Haydn (1732–1809) mit einer Messe, deren Titel nicht passender für unsere Zeit sein könnte: Missa in tempore belli C-Dur Hob. XXII:9. Haydn hat sie 1796 komponiert, als Napoléon Bonaparte – auch er ein grausamer Tyrann – mit seinem französischen Heer vor Wien stand. Im Schlussteil der Messe mit dem Text Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis (dt. Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt, erbarme dich unser.) tritt die Pauke hervor und spielt ein verlangsamtes Abbild des französischen Armeepaukenwirbels, weshalb die Messe auch Paukenmesse genannt wird. Und es ist sehr ergreifend, wenn unmittelbar auf den kriegerischen Paukenwirbel die Friedensbitte, also das Dona nobis pacem (dt. Gib uns Deinen Frieden.) folgt. Was ist gegenwärtig nötiger als dies?
Hören wir also auf der heutigen Klassikliste das Agnus Dei aus der Paukenmesse von Joesph Haydn. Unter der Leitung von Hilary Davan Wetton singt der City of London Choir, begleitet vom Royal Philharmonia Orchestra.
Archive
- Mai 2024
- April 2024
- März 2024
- Februar 2024
- Januar 2024
- Dezember 2023
- November 2023
- Oktober 2023
- September 2023
- August 2023
- Juli 2023
- Juni 2023
- Mai 2023
- April 2023
- März 2023
- Februar 2023
- Januar 2023
- Dezember 2022
- November 2022
- Oktober 2022
- September 2022
- August 2022
- Juli 2022
- Juni 2022
- Mai 2022
- April 2022
- März 2022
- Februar 2022
- Januar 2022
- Dezember 2021
- November 2021
- Oktober 2021
- September 2021
- August 2021
- Juli 2021
- Juni 2021
- Mai 2021
- April 2021
- März 2021
- Februar 2021
- Januar 2021
- Dezember 2020
- November 2020
- Oktober 2020
- September 2020
- August 2020
- Juli 2020
- Juni 2020